Bayerisches LSG; Urteil vom 18.01.2012 - L 2 P 71/11

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 30. Juni 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I für die Zeit vom Januar 2010 bis August 2010.

Der 1953 geborene Kläger beantragte am 2. Februar 2010 die Gewährung von Pflegegeld. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in Bayern nach Hausbesuch vom 11. März 2010 ein. Danach bestand eine Fraktur des 2. Halswirbelkörpers (HWK), ein Zustand nach Anlage eines Jerome-Hola-Fixateurs, ferner eine Gonarthrose des Kniegelenks, eine Coxarthrose sowie eine Lumbioschialgie. Im Bereich der Grundpflege falle ein Zeitbedarf in Höhe von 18 Minuten pro Tag (Körperpflege 12 Minuten, Mobilität 6 Minuten) an, für hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten pro Tag. Die Pflegestufe I sei nicht zu gewähren. Mit Bescheid vom 22. März 2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens legte der Kläger ein Pflegetagebuch für die Zeit vom 9. bis 14. April 2010 vor. Die Beklagte holte eine erneute Stellungnahme des MDK nach erneutem Hausbesuch vom 1. Juni 2010 ein, der den Zeitbedarf für die Grundpflege mit 21 Minuten (Körperpflege 15 Minuten, Mobilität 6 Minuten) und für Hauswirtschaft mit 45 Minuten einschätzte. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2010 zurück.

Mit der hiergegen gerichteten Klage zum Sozialgericht Würzburg hat der Kläger zunächst Pflegeleistungen mindestens nach der Pflegestufe I auf unbestimmte Zeit, zuletzt nur mehr bis einschließlich 31. August 2010 begehrt. Am 28. Juli 2010 ist im Universitätsklinikum W. der Halo-Fixateur entfernt worden; als Diagnosen sind ein Zustand nach instabiler HWK 2-Fraktur mit deutlichem Ventralversatz von Densaxis und Subluxation HWK1/2 vom November 2009 sowie ein Zustand nach Anlage eines Halo-Fixateurs am 11. Januar 2010 diagnostiziert worden. Das Sozialgericht hat aktuelle Befundberichte und Befunde beigezogen und den Internisten und Sozialmediziner Dr. D. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Nach dem Gutachten vom 25. April 2011 bestehen bei dem Kläger ein HWS-, BWS- und LWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen und abgelaufener HWK 2-Fraktur, Funktionseinschränkungen der Schultergelenke nach Luxation, eine Fingerpolyarthrose beidseits, eine Coxarthrose beidseits, eine Gonarthrose beidseits sowie eine beidseitige Schwerhörigkeit. Hilfebedarf falle insbesondere im Bereich der Ganzkörperwäsche (10 Minuten) an. Es seien vor allem Verrichtungen beeinträchtigt gewesen, die mit der Körperpflege im Oberkörperbereich sowie bei der Mobilität (An- und Ausziehen des Oberkörpers) verbunden gewesen seien. Die übrigen Verrichtungen seien zwar durch das Tragen des Fixateurs erschwert worden, aber nicht in dem Ausmaß, dass ein ständiger Hilfebedarf gegeben gewesen sei. Insgesamt habe in dem streitigen Zeitraum der Hilfebedarf in der Grundpflege 21 Minuten (Körperpflege: 15 Minuten, Mobilität: 6 Minuten), für die Hauswirtschaft pauschal 30 Minuten betragen. Nach Abnahme des Halo-Fixateurs habe sich die Pflegesituation gebessert.

Mit Gerichtsbescheid vom 30. Juni 2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es folgte dabei weitgehend dem Gutachten des Dr. D ...

Mit der Berufung hat der Kläger geltend gemacht, er sei durch den Fixateur gehindert gewesen, viele gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen des täglichen Lebens selbst auszuführen. Der Hilfebedarf sei bislang nicht ausreichend bewertet und berücksichtigt worden. Er sei insbesondere nicht in der Lage gewesen, das Waschen selber vorzunehmen. Es sei auch von einer täglichen Teilwäsche des Oberkörpers aufgrund der erhöhten Schweißbildung auszugehen. Der Fixateur habe auch beim Rasieren ein besonderes Hindernis dargestellt. Ein Hilfebedarf habe auch beim An- und Ausziehen bestanden. Im Bereich der Hauswirtschaft sei von einem Hilfebedarf von 45 Minuten auszugehen, wie auch vom MDK angenommen. Ein Antrag auf Begutachtung nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) werde nicht gestellt.

Die Beklagte hat ausgeführt, dass vom Gutachter neben der wöchentlichen Teilwäsche des Oberkörpers auch der Zeitbedarf für eine tägliche Ganzkörperwäsche angerechnet worden sei. Bei den übrigen Tätigkeiten sei zu berücksichtigen, dass die Hände und Arme frei beweglich gewesen seien.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 30. Juni 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. März 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. Januar 2010 bis 31. August 2010 Leistungen mindestens nach der Pflegestufe I in Form von Pflegegeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143151 SGG), jedoch unbegründet.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 S. 1 bis 3 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 S. 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der hierin aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14), eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).

Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss dazu der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) zu verstehen.

Zur Grundpflege zählen:
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung;
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung;
3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Zutreffend ging das Sozialgericht davon aus, dass dem Kläger in dem noch streitigen Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 31. August 2010 keine Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung mindestens nach der Pflegestufe I zustehen. Das Sozialgericht bezog sich dabei vor allem auf die gutachterlichen Äußerungen des Dr. D ... Gemäß § 153 Abs. 2 SGG verweist der Senat auf die zutreffende Begründung des Sozialgerichts. Insbesondere berücksichtigte der Sachverständige den zur Berufungsbegründung vorgebrachten Hilfebedarf beim Waschen des Oberkörpers, beim Rasieren sowie beim An- und Ausziehen.

Soweit der Kläger auf die notwendige tägliche Teilwäsche des Oberkörpers statt der angenommenen wöchentlichen verweist, ist diese Verrichtung in Zusammenhang mit dem vom Sachverständigen zusätzlich angenommenen Hilfebedarf für eine tägliche Ganzkörperwäsche zu sehen. Aber selbst bei Annahme einer täglichen, nach dem Pflegetagebuch wegen der Schweißbildung beim Tragen des Fixateurs abends erfolgenden Teilwäsche des Oberkörpers wären hierfür lediglich weitere 12 Minuten (7 x 2 Minuten abzgl. der bereits einmal wöchentlich anerkannt) anzuerkennen, so dass mit insgesamt 33 Minuten Zeitbedarf für die Grundpflege die Voraussetzungen der Pflegestufe I noch nicht erfüllt sind.

Für das Rasieren hat der Gutachter bereits zwei Minuten täglich anerkannt. Der Hilfebedarf besteht bei der Nassrasur. Der MDK hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass nur eine teilweise Übernahme erforderlich ist und sich auf eine Nachrasur beschränkt. Auch den Hilfebedarf für das An- (4 Minuten täglich) und Ausziehen (2 Minuten täglich) wurden berücksichtigt. Allein dass alle Tätigkeiten für den Kläger aufgrund des Fixateurs mühsamer waren und langsamer als üblich verrichtet werden konnten, führt noch nicht zur Annahme der Voraussetzungen einer Pflegestufe. Allein maßgebend ist, ob er hierbei auf fremde Hilfe in Form der Anleitung, Unterstützung, teilweisen oder vollständigen Übernahme angewiesen war. Dies ist nur bei den vom MDK sowie vom Sachverständigen aufgeführten Verrichtungen der Fall gewesen.

Im Übrigen hat Dr. D. ausdrücklich festgestellt, dass Hilfebedarf nur für Tätigkeiten bestand, die den Oberkörper betreffen. Er bestätigte die Einschätzungen des MDK in dem Gutachten vom 1. Juni 2010. Da es sich im Wesentlichen nur um eine Hilfe durch Unterstützung bzw. Teilübernahme handelt, sind die im Pflegetagebuch ausgeführten Zeiten nicht in diesem Umfang anzuerkennen.

Der Hilfebedarf im Bereich der Hauswirtschaft ist allerdings mit 45 Minuten statt mit 30 Minuten anzusetzen. Da jedoch der Hilfebedarf für die Grundpflege nur bei 21 Minuten bzw. bei Annahme einer täglichen Teilwäsche des Oberkörpers bei 33 Minuten liegt und der Gesamtbedarf damit bei 66 bzw. 78 Minuten liegt, führt auch dies nicht zum Vorliegen der Pflegestufe I gemäß § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.